KEINE SCHICHT WIE JEDE ANDERE

 

Montag früh fünfuhrfünzig. Es hat sich in der vergangenen Nacht nur wenig abgekühlt. Als ich die Fabrikhalle betrete, springen mich die Hitze und die schlechte Luft regelrecht an.
Bevor ich an der Stechuhr bin, läuft mir die Suppe schon am Körper herunter. Die Kumpels in ihren sauberen Blaumännern schleichen müde herum. Der lange Krimberg kommt mir entgegen.
„Morgen Kurt, wie geht’s?“ „Frag mich das lieber zum Feierabend!“ Ich hol mir noch schnell einen Kaffee aus dem Atomaten, da dröhnt auch schon das Horn los. Schichtanfang! Innerhalb von wenigen Minuten bin ich umgeben von Lärm, Dreck und noch mehr Hitze.
Ich will die erste Panzerrinne zusammenbauen. Verdammter Mist, das Blech ist zu breit. Das sollte doch schon längst in Ordnung sein. Ich hole den Kran, baue das Blech aus und will die Kante abschleifen. Wo ist denn die Schleifmaschine schon wieder? Eine halbe Stunde laufe ich herum, bis ich die gefunden habe. Langsam steigt in mir die Wut hoch. Ich schleife das Blech passend, richte die Höhe aus und will die Rinne zusammenheften. Der Stahldraht läuft nicht. In meinen Ohren fängt es an zu dröhnen, vor den Augen tanzen Funken. Ich explodiere. Mit einem wilden Fluch schmeiße ich den Schweißspiegel auf die Erde. Beide Gläser kaputt. Der Kumpel in der Nachbarbox grinst. „Was ist, Frigge, ist der Spiegel hingefallen?“ „Pass auf, dass Du nicht gleich daneben fällst“.
Ich baue die Scherben aus dem Spiegel und tausche sie gegen neue Gläser. Bei einer Zigarette beruhige ich mich. Wenn das heute so weitergeht, bekomme ich nichts geschafft. Keine Leistung, kein Geld. So allmählich kommt die Sache aber doch in Gang. Der Wasserumlauf in meinem Körper auch. Ich schwitze schneller als ich trinke. Um sieben Uhr geht der lange Krimberg durch meine Box. „Was ist“, frage ich „keine Lust mehr?“ „Muss auf ’n Pott.“ Mit Energie und Ausdauer schaffe ich die Zeit bis zur Frühstückspause. Die Kumpels lassen fast alle ihre Stullen stecken. Es wird nur getrunken und geraucht. Die meisten waren am Sonntag schwimmen. Was soll man bei der Hitze auch sonst machen? Da geht das verdammte Horn wieder los. Pause vorbei. Wir ziehen unsere Schutzkleidung über und prügeln weiter. Na ja, wenn das so weiterläuft, verdiene ich heute doch noch ein paar Pfennige.
Da kommt Kalle in meine Box. „Du, Heinz, hasse schon gehört?“ „Was denn?“ „Der Krimberg liegt auf’m Lokus rum.“ „Was heißt das, was hat er denn?“ „Weiß nicht.“ Ich schlage die Schutzplane an meiner Box zurück und will zur Toilette. Ich komme nicht durch. Die Belegschaft der ganzen Halle hat sich vor der Toilettentür versammelt.
Zwischen den Blaumännern der Kumpels sehe ich den Direktor, den Betriebsleiter, den Betriebsrat und noch andere Leute, die man sonst bei uns unten nicht sieht. „Was ist denn hier los?“ frage ich. „Kurt Krimberg ist tot.“ Mir fällt vor Schreck die Brille runter. „Das gibt’s doch nicht. Den habe ich doch heute morgen noch gesehen.“ „Meinste Du nur?“
Mir wird kalt. Trotz der Hitze in der Halle. Ich sehe mich um. Ratlose, betretene Gesichter. Kurt war 31 Jahre bei uns. Theo erzählte: „Er ist um sieben zur Toilette. Um halb neun ging ich drauf. Da lag unter der Tür seine Mütze. Und ein Fuß guckte so komisch vor. Ich dachte, der pennt. „Kurt, komm runter, Pause, hab ich gerufen. Um halb zehn war er immer noch nicht da, da hab ich den Kauwärter gerufen. Der hat von außen die Tür aufgeschlossen und da fiel uns Kurt entgegen, ganz blau im Gesicht. Ein Kripobeamter öffnet die Tür zu den Toiletten. Da sehe ich Kurt auf der Erde liegen, mit einer Decke verhüllt. Mir kommt’s hoch, das Wasser steigt mir in die Augen. Mein Gott, warum? Fünfundvierzig Jahre, die Kinder eben groß. Und jetzt liegt er da in der Scheiße. Ein erfülltes Arbeitsleben.
Still und bedrückt gehen die meisten Kollegen wieder an ihre Arbeitsplätze zurück. Aber es spielt sich nicht mehr viel ab. Ich ärgere mich nicht mehr über die zu breiten Bleche und den nicht laufenden Stahldraht. Die Mittagspause verläuft so ruhig wie nie. Als das Horn zum Feierabend bläst, sind wir alle erleichtert.
Auf dem Weg zur Stechuhr überlege ich. Irgendetwas war da doch noch. Ach ja, ich sollte den langen Krimberg zum Feierabend fragen, wie’s ihm geht.